Gern sagen mir Medienmenschen und Journalisten, meine Behauptung, weite Teile deutscher Redaktionen bestünden aus digitalen Analphabeten sei komplett übertrieben.
Mag sein. Andererseits leisten sich heute mit dem “Kress Report”, dem “Kölner Stadtanzeiger” und dem “Standard” drei nicht völlig übel beleumundete Redaktionen den gleichen, extrem peinlichen Schnitzer: Sie glauben, was ohne weiteren Kommentare auf einer Internet-Seite geschrieben steht. Recherche? Nein, danke.
Kurz zur Einführung die heutige Digital-Story des Tages. Jung von Matt, Werbeagentur der “Bild”, hatte bei der wundervollen Band Wir sind Helden mal gefragt, ob diese nicht für die Promi-Werbekampagne des Blattes zur Verfügung stünde. Die Antwort kann nicht mal Jung von Matt (obwohl…) überrascht haben: nein.
(Sie sehen: Jean Remy von Matt, Co-Gründer von Jung von Matt.)
Ausformuliert war dieses “nein” aber höchst unterhaltsam. Auch das war zu erwarten, weshalb ich nicht mal ausschließen möchte, dass Jung von Matt genau damit gerechnet hat – und somit ein wenig Wirbel im Sinne des Auftraggebers erreichen wollte. Sängerin Judith Holofernes schrieb köstliche Zeilen. Auszug:
“Ich glaub, es hackt.
Die laufende Plakat -Aktion der Bild -Zeitung mit sogenannten Testimonials, also irgendwelchem kommentierendem Geseiere (Auch kritischem! Hört, hört!) von sogenannten Prominenten (auch Kritischen! Oho!) ist das Perfideste, was mir seit langer Zeit untergekommen ist. Will heißen: nach Euren Maßstäben sicher eine gelungene Aktion..
Das Problem dabei: ich hab wahrscheinlich mit der Hälfte von euch studiert, und ich weiß, dass ihr im ersten Semester lernt, dass das Medium die Botschaft ist. Oder, noch mal anders gesagt, dass es kein “Gutes im Schlechten” gibt. Das heißt: ich weiß, dass ihr wisst, und ich weiß, dass ihr drauf scheißt…
Die Bildzeitung ist ein gefährliches politisches Instrument – nicht nur ein stark vergrößerndes Fernrohr in den Abgrund, sondern ein bösartiges Wesen, das Deutschland nicht beschreibt, sondern macht. Mit einer Agenda.
In der Gefahr, dass ich mich wiederhole: ich glaub es hackt.”
Die Kunde von jener Antwort machte schleunigst die digitale Runde. Ergebnis: #Helden gehört zu den 10 meistverwendeten Schlagworten weltweit bei Twitter – und die Homepage von Wir sind Helden war über Stunden nicht erreichbar.
Am späten Vormittag machte ein weiterer Link in der Sache die Runde. Er lenkt den Leser auf Jetzt.de, das Online-Jugendangebot der “Süddeutschen Zeitung”. Dort findet sich ein Text, der so aussieht:
Der gemeine Leser, und ich behaupte kühn: auch Journalisten, könnte nun, nähme er auch nur eine Sekunde an, dies sei die reale Reaktion von JVM sich einige Fragen stellen:
Warum reagiert Jung von Matt nur auf Jetzt.de? Ist das der Kanal, den die Agentur wählen würde?
Warum verpackt Jetzt.de dies nicht in eine Geschichte, die dem Leser erklärt, warum das da so steht?
Warum steht über dem Artikel die merkwürdige Zeile: “Text: synthie_und_roma in JETZTpartei (506)”?
Warum erscheint nach dem Klick auf den ersten Teil jener Zeile ein Text mit der Überschrift: “Manuskript von Guttenbergs Rede vor dem Bundestag aufgetaucht!”?
Ist der harsche und platt beleidigende Ton des Textes wirklich die Art, wie Jung von Matt kommunizieren würde? (OK, es gab ja einst die Klowände des Internets…)
Das ist nur eine Auswahl. Auf diese Fragen könnte man kommen. Und sich fragen: Ist das wirklich von Jung von Matt? Dann wäre ein journalistischer Grundimpuls eine Fachtechnologie, die man Recherche nennt. Sie wird gelegentlich in Redaktionen noch angewandt, ist aber vom Aussterben bedroht. Olaf Kolbrück von “Horizont” hat bei Jung von Matt angefragt. Ergebnis: Diese Reaktion ist eine Fälschung. Mutmaßlich soll sie Satire sein, ist aber eher so mittelmäßig lustig.
Diese Fragen, diese Grundreflexe, beim Mediendienst “Kress Report” sind sie nicht vorhanden. Der berichtet tatsächlich in einem Stück mit leicht hämischem Unterton (hämisch gegenüber Wir sind Helden), dass jener Text bei Jetzt.de tatsächlich aus dem Hause JVM stamme:
Inzwischen ist auch dem “Kress” klargeworden, dass er einen höchst peinlichen Fehler hingelegt hat.
Das unterscheidet ihn vom “Kölner Stadtanzeiger” und dem österreichischen “Standard”. Dass die Kölner die Jetzt.de-Satire für voll genommen haben, ist fast nicht verwunderlich. Denn sie selbst haben ja die dazugehörigen Texte ohne jeden Zusammenhang in ihren Online-Auftritt geworfen – ohne Rücksicht auf den Leser. Wer den Haupttext findet – er ist unter der falschen Replik nicht verlinkt – der stößt dann auf folgendes Artikel-Ende:
“Mittlerweile hat „Jung von Matt“ auf bissige Art und Weise auf den Brief geantwortet. Dort steht etwa, dass Judith Holofernes eine “weltverbesserische Neofeministin mit Sendungsbewusstsein” sei. Angesichts des langen Briefes, den die Sängerin formuliert hatte, schreibt die Werbeagentur: “Unsere Art-Direktoren (die gerade hart für eine 68-Stunden-Woche kämpfen!) arbeiten noch härter daran, die Masse an Text auf einem Plakat unterzubringen. Vielleicht machen wir sogar vier Plakate daraus? Für jedes „Wir sind Helden“ Mitglied eins. Das wäre doch eine tolle Idee. Finden Sie nicht?” Die ganze Antwort der Hamburger Werber finden sie unter diesem Artikel. Eine Fortsetzung ist sehr wahrscheinlich.”
Bis man diese Bruchstücke findet dauert es übrigens ein wenig: Wenn ich das richtig sehe, funktioniert die interne Suchfunktion von KSTA.de nicht. Sie springt bei mir immer auf die Web-Suche.
“Die Welt braucht Journalismus” jammen Medienmanager in der Krise gern. Das stimmt. “Kress”, “Standard” und “Kölner Stadtanzeiger” demonstrieren, wie nötig wir Journalisten brauchen – sie sollten mal welche anstellen.